Sinn von Klassentreffen ändert sich mit Lebensalter
Die Neugier mit der wir uns wiederbegegnen, ist bei jedem der großen Wiedersehen zu spüren. Wir haben haben uns viel zu erzählen. Was uns dringend interessiert, verändert sich allerdings von Klassentreffen zu Klassentreffen.
nach 10 Jahren
Wenn das erste Klassentreffen stattfindet, sind die meisten von uns gerade erst "angekommen" im Beruf. Noch sind Korrekturen an der Lebensplanung ganz normal. Zehn Jahre nach dem Abschlusszeugnis stehen wir an der Schwelle zur Familiengründung, viele Weichen werden jetzt gestellt. Vom Klassentreffen erhoffen wir uns Anregungen. Das Wiedersehen ist eine Gelegenheit, den eigenen Weg in Worte zu fassen, ja in der Differenz zu anderen erst richtig deutlich zu erkennen. Im Gespräch mit den ehemaligen Mitschülerinnen und Mitschülern fragen wir sie und uns selbst: "Wer war ich damals? Und wer bin ich heute?".
Sozialwissenschaftlerin Sabine Maschke, die die biografische Funktion von Klassentreffen untersuchte, beschreibt den Prozess als "Suche nach Selbstgewissheit". Wir wollen uns der Richtigkeit der eigenen Pläne vergewissern und suchen Selbstbestätigung. Die anderen liefern uns durch ihre Berichte Definitions- und Bewertungsmaßstäbe und führen uns vor Augen, was wir vielleicht noch erreichen können. Dadurch, dass die alte Nähe noch fühlbar ist und viele Ähnlichkeiten existieren, kehrt das "Wir-Gefühl" schnell zurück. Konflikte aus der Schulzeit werden jetzt thematisiert und meistens beigelegt. Neue Anerkennung wird möglich.
nach 25 Jahren
Wir befinden uns mitten in der "Rushhour des Lebens" und haben im Alltag wenig Zeit, einen Schritt zurückzutreten um einen Blick auf das große Ganze zu werfen. Das Klassentreffen ist einer dieser raren Momente. Psychotherapeutin Johanna Müller-Ebert spricht vom "Bedürfnis nach einer persönlichen Zwischenbilanz", das wir uns jetzt erfüllen. In unseren Vierzigern ginge es darum, "sich noch einmal seines Selbstwertes in Abgrenzung zu anderen zu versichern." Wir hören durch die Weggefährten unserer Jugend möglicherweise von ganz anderen Lebensmodellen, denen wir normalerweise nicht begegnen.
Gleichzeit suchen wir nach Kontinuität. Das Wort "Heimat" bekommt einen angenehmen Klang. Wir besinnen uns auf unsere Wurzeln. Und vielleicht auf eine alte Liebe. Nicht wenige sind getrennt oder geschieden und offen für einen Flirt. Die alten Lehrer werden zum gleichberechtigten erwachsenen Gegenüber. Wir betrachten den gemeinsamen ersten Lebensabschnitt neu und versuchen unsere Jugend in ein biografisches Gesamtkonzept einzuordnen. Wir fühlen jetzt deutlich, dass wir einer Generation angehören und erkennen, was sie ausmacht.
nach 50 Jahren
Es ist ein Phänomen: Obwohl der Schulabschluss schon lange zurückliegt, wird unser Interesse an Klassentreffen nicht schwächer. Eher im Gegenteil. Möglicherweise liegt es daran, dass es immer weniger Möglichkeiten gibt, der eigenen Vergangenheit zu begegnen. In die Welt einzutauchen, in der man heimisch war. Wer kennt schon noch das Mädchen von damals oder den Jungen, der wir waren? Nur die ganz alten Freunde. Und die Klassenkameraden. Das Wiedersehen wirkt wie ein Jungbrunnen. Trennendes und Gespräche über die Karriere werden unwichtiger. Die gegebene Vertrautheit steigt im Wert, ein neues Gemeinschaftsgefühl kann sich bilden.
In den Gesprächen geht es neben den genüsslich aufgewärmten Jugendsünden auch um das Älterwerden. Wir wollen hören, wie die anderen damit zurecht kommen und welche Strategien sie haben, mit den Veränderungen umzugehen. Immer noch empfangen wir voneinander Anregungen. Wir fragen uns auch "Was muss ich nicht mehr sein?" und üben uns darin, die eigene Vergangenheit so anzunehmen wie sie ist. "Selbstintegration", nennt Sozialwissenschaftlerin Sabine Maschke diesen Biografisierungsschritt. Wie im Kleinen so im Großen: Wir erkennen den Anteil unserer Generation an der Zeitgeschichte.